Jesiden-Prozess: lebenslange Haft für IS-Kämpfer | Welt | DW | 30.11.2021

2021-12-13 09:52:43 By : Mr. thomas xu

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Das Oberlandesgericht Frankfurt hat einen Anhänger des "Islamischen Staates" wegen Völkermord an den Jesiden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Es ist das erste derartige Urteil weltweit.

Dieses Urteil schreibt Rechtsgeschichte: Erstmals weltweit hat ein Gericht ein ehemaliges Mitglied des sogenannten Islamischen Staates des Völkermords an der jesidischen Religionsgemeinschaft schuldig gesprochen. Auch die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt haben den 29-jährigen Anhänger der Dschihadistenmiliz aus dem Irak am Dienstag der tödlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden. Konkret ging es um den grausamen Tod eines fünfjährigen Mädchens.

Der angeklagte Iraker steht seit Mai 2020 in Frankfurt vor Gericht. Das Kind lebte mit seiner jesidischen Mutter als Sklavin im Haushalt des IS-Mitglieds - und seiner deutschen Frau.

In München wurde Jennifer W. zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie ist die Ex-Frau des jetzt in Frankfurt verurteilten

Die IS-Rückkehrerin Jennifer W. wurde Ende Oktober in einem gesonderten Verfahren zu zehn Jahren Haft verurteilt - unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wegen Sklaverei mit Todesfolge und Mittäterschaft bei versuchten Morden Unterlassung. Es ging um dasselbe Kind. 

Das Drama spielte sich im Sommer 2015 in Falludscha im Nordirak ab. Dort regierte damals die Terrormiliz IS. Die vom IS entführte Yezidin Nora T. musste das Haus putzen, Wäsche waschen und den Haushalt führen; Ihre Tochter Reda soll vor allem eines tun: nicht stören. An einem heißen Augusttag berichten die Zeugen Nora T. und Jennifer W. einstimmig, dass das Mädchen ins Bett gemacht habe. Zur Strafe fesselte der inzwischen Verurteilte das Mädchen in der prallen Sonne an ein Fenstergitter. Bis es starb.

Sieben Mal sagte Nora T. in Frankfurt als Zeugin aus, in München sogar elf Mal. Immer wieder musste die gebeugte Frau von jenem schlimmen Tag erzählen, an dem ihre Tochter starb. Sie ist Ende Vierzig – und sieht 20 Jahre älter aus. Das Schicksal ihres Volkes, der Jesiden, spiegelt sich in ihrem Schicksal wider. Sie halten ihre Religion für die älteste der Welt. Sie glauben an einen Gott, aber sie verehren auch Engel. Die Terrormiliz IS hat die Jesiden als "Ungläubige" und "Teufelsanbeter" gebrandmarkt - und sie 2014 systematisch gejagt.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass 7.000 Frauen und Kinder versklavt und verkauft wurden, viele werden noch immer vermisst. Diejenigen, die männlich und alt genug waren, um Achselhaare wachsen zu lassen, wurden ermordet - Tausende von Menschen. Nora T. ist nur ein Sohn ihrer Familie. Sie lebt mit den Polizisten an einem geheimen Ort in Deutschland im Zeugenschutzprogramm. Doch als Nebenklägerin legt sie ihre Opferrolle in den Gerichtssälen ab. Unterstützt wurde sie dabei von der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney; Nora T. wurde von der deutschen Rechtsanwältin Natalie von Wistinghausen vertreten.

Dass der Tod ihrer Tochter Reda vor einem deutschen Gericht im Irak verhandelt wurde, liegt am sogenannten Weltrechtsprinzip im Internationalen Strafgesetzbuch. Damit können deutsche Staatsanwälte und Gerichte auch dann Straftaten verfolgen, wenn die Straftat nicht in Deutschland begangen wurde und weder Täter noch Opfer Deutsche sind. Im Fall des jetzt verurteilten IS-Kämpfers gibt es noch eine weitere Besonderheit: Der Iraker befand sich bei seiner Festnahme noch nicht einmal auf deutschem Boden. Die Bundesanwaltschaft ließ ihn in Griechenland festnehmen und an Deutschland ausliefern.

Für den Völkerrechtler Alexander Schwarz zeige der Prozess "die Bereitschaft Deutschlands, Völkerrechtsverbrechen weltweit tatsächlich zu verfolgen und nicht an Landesgrenzen halt zu machen". 

Schreckliches Erbe: Massengrab von Jesiden im Nordirak

Wie kann aus dem schrecklichen Tod der kleinen Reda ein Völkermord werden? Denn die Richter sahen es als erwiesen an, dass der Umgang der Angeklagten mit Nora T. und ihrer Tochter Teil eines IS-Plans zur Zerstörung der jesidischen Religionsgemeinschaft war. „Völkermord ist das schwerste Verbrechen, das das Völkerstrafrecht kennt. Völkermord ist aber auch das am schwersten nachzuweisende Delikt“, erklärt Völkerrechtler Schwarz. "Weil man die Absicht des Täters beweisen muss; man muss ihm beweisen, dass es subjektiv wirklich um die Zerstörung der jesidischen Religionsgemeinschaft ging." 

Rechtsanwalt Serkan Alkan (links) vertrat den Angeklagten in Frankfurt

Die Verteidigung versuchte, ihre Klienten so weit wie möglich von der organisierten Vernichtungskampagne des IS gegen die Jesiden abzulenken. Die Mutter des Mädchens war für ihn nur eine Haushaltshilfe. Der Tod des Mädchens könnte auch auf eine Vorerkrankung zurückzuführen sein. Die Kinder im Irak sind hohe Temperaturen gewohnt. "Der Tod des Kindes war ein schrecklicher Unfall, den er ganz sicher nicht wollte", sagte der Verteidiger nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa. Dem sind die Richter in ihrem Urteil jedoch nicht gefolgt.

Zur Untermauerung der Unfallthese brachte der Angeklagte das jesidische Mädchen direkt in ein örtliches Krankenhaus. Die Verteidigung hatte sogar Zweifel gesät, dass das Kind überhaupt gestorben war. Im Mai sagte sie unter Berufung auf einen Mitarbeiter des Krankenhauses Falludscha und einen entfernten Onkel des Angeklagten, Reda sei eine Woche lang im Krankenhaus gepflegt worden: Dann hätte ein IS-Mann das Mädchen mitgenommen. Heute lebt das Mädchen in Idlib in Nordsyrien. Beweise dafür seien schwer zu erbringen, räumte die Verteidigung ein.

2014 griff der IS das Siedlungsgebiet der Jesiden an. Zehntausende flohen, Tausende starben oder wurden versklavt.

Dieses Detail zeigt, wie schwierig und zeitaufwendig es ist, solche Prozesse abseits des Tatorts durchzuführen. Die Bundesanwaltschaft siebt und sammelt seit Jahren in sogenannten Strukturermittlungen Beweise für vom IS begangene Völkerrechtsverbrechen. Diese können dann in Ermittlungsverfahren gegen konkrete Tatverdächtige verwendet werden. Aber insgesamt, urteilt der Völkerrechtler Alexander Schwarz, "ist Deutschland mit seinen begrenzten Mitteln nicht in der Lage, die Masse der vom Islamischen Staat begangenen Völkerrechtsverbrechen aufzuklären". Ein internationaler Strafgerichtshof beispielsweise im Irak könnte zumindest einen Großteil dieser Verbrechen aufklären. "Momentan spricht nicht viel dafür, dass ein solches Tribunal zustande kommt", sagte Schwarz.

Insofern sind Prozesse wie in Frankfurt vielleicht nur die zweitbeste Lösung. Aber sie sind von enormer Bedeutung. Für Nora T. im Besonderen und für die Jesiden im Allgemeinen. An der Außenmauer des Oberlandesgerichts Frankfurt steht in Metallbuchstaben der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Vor allem die Jesiden, denen der IS auf tausende grausame Weise ihre Würde nehmen wollte, sehen sich dieses Urteil an. Und hoffen auf Gerechtigkeit.

Mit dem Urteil gegen den 29-jährigen IS-Anhänger ist dies nun zumindest rechtskräftig festgestellt. Neben der lebenslangen Freiheitsstrafe für den Angeklagten verurteilte das Gericht auch die überlebende Mutter zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 50.000 Euro. 

Im Irak soll ein Gesetz den Schutz und die Wiedereingliederung der Jesiden gewährleisten, die von 2014 bis 2017 der schlimmsten Verfolgung durch den "Islamischen Staat" ausgesetzt waren. Doch bis heute fühlen sich viele nicht sicher.  

Im Prozess gegen die IS-Rückkehrerin Jennifer W. ging es nicht nur um den Tod eines fünfjährigen Kindersklaven. Es ging um Gerechtigkeit bei einem Völkermord, sagt Matthias von Hein.  

Vor rund fünf Jahren griff die IS-Terrormiliz das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden, das Sindschar-Gebirge im Nordirak, an. Künftig soll jedes Jahr am 3. August des Massakers mit Tausenden Toten gedacht werden.  

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